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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Die Heimkehrerin - Teil 1

741 Tage. Etwas länger als zwei Jahre war es her, seit Marie zuletzt diese Straße entlanggefahren war. Das Gefühl von „endlich komme ich nach Hause€ kam irgendwie nicht in ihr hoch. Was seltsam war, denn zumindest die letzten sechs Wochen, nachdem sie ihren Job als Kellnerin in Dublin gekündigt hatte, wartete sie auf nichts sehnlicher, als endlich wieder auf den Ritten zurückzukehren. Sie hatte Heimweh - und das schon viel viel länger, als sie es sich eingestehen wollte. Aber Marie war ein Sturkopf - was wohl das einzige war, was von dem kleinen Mädchen von damals übrig geblieben war.

So saß Marie leicht angeschlagen im Rittner Bahnl, das sie nach so langer Zeit nach Hause bringen sollte und band ihre dunkel gefärbten Haare zu einem Pferdeschwanz. Sie erinnerte sich amüsiert an ihren feuchtfröhlichen 20. Geburtstag vor zwei Tagen, den sie mit ihren irischen Kollegen in einem heruntergekommenen Pub gefeiert hatte und zweifelte plötzlich an ihrer Entscheidung, wieder ins ruhige Örtchen Wolfsgruben zurückzukehren. Vermutlich würde sie sich nach nur wenigen Tagen dermaßen langweilen, dass sie wieder das Weite suchen wollte. Was soll’s, zumindest würde sie ihre Eltern mal wieder sehen. Die junge Frau musste zugeben, dass sie sie vermisste. Ebenso Ludwig, der … Marie schob den Gedanken an ihren Großvater schnell beiseite.
Das Bahnl verlangsamte sein Tempo. Maries Haltestelle. Sie schnappte sich ihren großen Rucksack, der seit ihrem Aufbruch vor zwei Jahren ganz schön lange Strecken hinter sich gebracht hatte und atmete die vertraute, frische Luft ein. Nach Rom, Madrid, Lissabon, Prag, London und Dublin war Wolfsgruben wohl der größte Kontrast, den man sich überhaupt vorstellen konnte und erneut überkamen Marie Zweifel.
Sie überquerte die Straße Richtung Wasser, berührte mit ihren Händen das altbekannte Holzgeländer und ließ ihren Blick über den See schweifen. Er war genauso still und unbewegt wie damals, als sie sich von ihm verabschiedet und sich endlich Bewegung in ihrem Leben gewünscht hatte. Ihr Haus lag ebenfalls unverändert am gegenüberliegenden Ufer. Die Insel, die Brücke, ja sogar das Ruderboot, mit dem sie so oft über die Oberfläche geglitten war, schien unverändert. Der große, bemooste Stein, auf dem sie so oft mit ihrer Mama Brötchen und Kirschen gegessen hatte…, selbst dieser beschloss offensichtlich, zur Konstanz des Lebens am See beizutragen. Naja, was hatte sie sich erwartet? Dass sie all das plötzlich in einem knalligen Gelb vorfinden würde? Oder größer? Und dann überlegte sie sich, was ihre Eltern wohl dazu sagen würden, dass sie ihre schönen blonden Haare gefärbt hatte. Welcome home, seufzte Marie bei sich.

Auf dem Weg zum Haus ihrer Eltern knirschte der Kies unter den Sneakers und die kleinen Ästchen am Waldboden gaben leise Knackgeräusche von sich.
Die Heimkehrerin war nichts anderes mehr gewohnt als den schmutzigen Asphalt der Stadt, schicke Parkettböden der Restaurants, in denen sie gearbeitet hatte, und die abgenutzten, klebrigen Böden der Bars und Diskotheken, in denen sie herumgehangen hatte. Von der Natur hatte sie bis auf den einen oder anderen Strand nicht viel gesehen. „Marie, Marie! Bist du es?” Es waren ihre Eltern, die aus der Tür gelaufen kamen und ihrer Mutter standen erwartungsgemäß die Tränen in den Augen. Marie schaffte es noch nicht mal, ihren Rucksack abzulegen, da schlossen sie Mama und Papa in die Arme, schluchzend und lachend. „Es ist so schön, dass du wieder da bist, mein Schatz! Wir haben dich wirklich vermisst.”
Marie schien sich zu irren: Es war doch nicht alles gleich geblieben: ihre Mutter war dünner geworden und schien sehr erschöpft zu sein und ihr Vater wirkte fast 15 Jahre älter.
„Geht es euch gut?”, war das erste, was Marie fragte.
„Jetzt schon, meine Süße. Jetzt schon.”