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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Die G’schicht’nklauberin

Die milden Sommerabende, wenn das Wasser sich von all den lustigen Schwimmbewegungen beruhigte und auch die Vögel wieder leiser wurden, waren einfach die allerbesten, fanden Marie und Felix. Sie genossen es, auch dann noch am See spielen zu können, wenn alle anderen Badewütigen und Sonnenanbeter schon längst nach Hause gegangen waren und endlich friedvolle Stille einkehrte. Man konnte dann den Sommer noch etwas besser hören und ach, was klang er herrlich!

Die zwei Freunde ließen gerade Steine über die Wasseroberfläche flitschen, als sie bemerkten, dass eine Frau, die am Ufer der Insel hockte, sie beobachtete, um dann ihren Blick weiter über den See schweifen zu lassen. „Die da drüben ist doch sicher nicht zum Baden hergekommen. Dafür sieht sie viel zu fesch aus, oder?“, fragte Marie, ohne sich eine Antwort von Felix zu erwarten. Aber auch er fand die grauhaarige Dame mit den glänzenden, silbernen Schuhen, dem langen weißen Rock und der hellblauen Bluse viel zu skurril. Sie passte so gar nicht hierher, wie sie da alleine saß, sich ihre schmale Brille und die vollen Locken zurecht rückte. Auch Felix schmunzelte: „Sie hat ja nicht mal ein Badehandtuch mit dabei, was die da nur treibt?“ Sie schien gar nichts zu treiben, sondern nur vor sich hin zu träumen und eine Minute nach der anderen verstreichen zu lassen.
An den nächsten Tagen entdeckte Marie die eigentümliche, aber sehr schicke Dame immer wieder am See und ständig dann, wenn alle anderen Leute schon fort waren. Immer war sie alleine. Nie trug sie etwas bei sich. Sie war einfach nur da und war auffallend gut gekleidet. Als wäre sie eine herausragende, stolze Palme inmitten des plumpen Nadelwaldes. An einem Tag saß sie hier, am nächsten dort, einmal konnte Marie sie tiefer im Wald erspähen und ein anderes Mal, da zog sie sich ihre Schuhe aus und ging mit dem langen rosa Kleid, das sie an jenem Tag trug, bis zum Bauch ins Wasser. Es konnte sich Marie einfach nicht erschließen, was die Unbekannte da tat und sie war mehr als nur verdutzt. Der Großvater gesellte sich zu seiner Enkelin ans Fenster, von dem aus sie an einem Abend die Dame beobachtete. „Ist die Frau verrückt, Opa?“, wollte Marie wissen, woraufhin dieser lachen musste. „Die G’schicht’nklauberin von Wolfsgruben meinst du? Verrückt ist relativ,“, antwortete Großvater mit einem breiten Grinsen, „eigenbrötlerisch und kreativ beschreibt sie vielleicht eher. Genau zwölf Mal kommt sie im Jahr hierher, davon einige Male jetzt im Sommer. Sie kommt, wie du schon gemerkt hast, nicht zum Schwimmen oder zum Sonne genießen vorbei, nein. Sie bringt nichts weiter mit als weit geöffnete Augen und ein genauso offenes Herz, um all die Eindrücke einzusaugen, die sie für ihre zwölf Geschichten im Jahr so braucht. Und jedes Jahr im Spätherbst erscheint ihr Geschichtenband über Wolfsgruben, darin finden sich dann einige Geschichten über unseren „Seejuwel“. Sie lässt sich inspirieren von unserer schönen Umgebung, wenn man so will. Und das schon seit über zehn Jahren.“ „Zehn Jahre schon …“, wiederholte Marie fasziniert und versuchte sich in ihrem kleinen Köpfchen auszurechnen, wie viele Geschichten also bereits existierten. Wie hypnotisiert blickte sie zu der extravaganten „G’schicht’nklauberin“ und war nun – wo sie wusste, was diese hier eigentlich tat – angetan und beeindruckt von ihr. Wie sie ihr Gesicht vom Himmel bis zum kleinsten Grashalm senkte und zuerst jenem, dann dem anderen Geräusch allergrößte Beachtung schenkte … Wie sie mit ihren schon etwas zittrigen Händen über die ebenso bejahrte Rinde der Fichten und Lärchen glitt … Wie sie behutsam einen Fuß vor den anderen setzte, als fürchtete sie, auf dem Weg liegende Inspirationen zu zertreten. Was Marie vor einigen Minuten noch als beinah verrückt abgetan hatte, war nun für sie eine wundervolle und erstrebenswerte Beschäftigung.
Einige Monate später, es war schon fast Ende November und der erste Schnee ruhte sich lauschig auf dem Fensterbrett aus, lag ein Büchlein auf Maries Kopfkissen mit einem gelben Zettelchen vorne drauf: „Liebste Marie, schlag Seite 21 auf. Vielen Dank für die Inspiration! Mit besten Grüßen, die G’schicht’nklauberin“, stand da in akkurater, geschwungener Schrift. Und die nächsten sieben Minuten verbrachte Marie strahlend und mit wippenden Beinen damit, die märchenhafte Sommergeschichte vom Mädchen und dem Jungen zu lesen, die kleine, weiße Zaubersteine über den leuchtenden Regenbogensee flitschen ließen …