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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Der weise Wels

Die Augen halb geschlossen, so dass nie einer sagen konnte, ob er denn schlafe oder wache, lag er meist da. Den Bauch hatte er in den schlammigen Untergrund gesteckt, die langen Bartel hingen ihm auf die vor Algen schlüpfrigen Steine hinab. Die kühle Strömung an dieser Stelle des Sees massierte ihm sanft den Rücken und hie und da korrigierte der Wels seine Position mit einem einzigen, bedächtigen Schwenk seiner Schwanzflosse. So manche Striemen am Körper zeugten von alten Kämpfen; die Narbe oberhalb des linken Kiemens aber erzählte davon, dass die Geschichte, die man sich unter den Karpfen zu berichten pflegte, wohl nicht erfunden war. Jene Geschichte vom Kampf zwischen dem Wels und dem Fischermann erzählte man sich schon seit vielen Jahren zur Dämmerstunde, um die kleinsten Fische auch rasch in ihre Schlupflöcher zu bekommen. Ja, er hatte schon viele Jahre auf dem Buckel, der Wels. Die einen sagen, über 100 seien es. So manche behaupten, es gab ihn schon immer.

Eine freche, kleine Kaulquappe hatte sich soeben ihrer gallertartigen Behausung entledigt und sauste nun zwischen 1.000 Artgenossen am Ufer im Zickzack auf und ab. Sie war wohl die Quirligste von allen, scheute auch die Tiefe nicht und schoss ab und zu an den dunklen Steinen vorüber, unter jenen der uralte Wels hauste. „Er ist mürrisch“, warnte ihn einer seiner Brüder. „Er ist gefährlich“, sagte ein anderer. „Er hat noch nie in seinem ganzen Leben gelacht“, sagte ein dritter. „Nimm dich in Acht, er verschluckt dich sonst samt Flossen und Kiemen“, sagte eine Schwester. Doch die Neugier der pfiffigen Kaulquappe war stärker als ihre Angst.

„Wels, Wels! Wach auf!“ Die Kaulquappe kitzelte den Riesen am Barthaar. Und von tief im Inneren, aus dem riesigen, großen Brustkorb des Greises, bebte eine Stimme. „Ich schlafe nicht. Was willst du zappeliger Winzling.“ „Hier im See erzählt man sich, dass du alles weißt, Wels, dass du auf alle Fragen der Seebewohner immer eine Antwort weißt! Stimmt das?“ „Ich bin der älteste Fisch in diesem Gewässer. Ich hab' mehr gesehen als alle anderen. Ich hab' gelacht, geliebt, geweint, mehr als du dir in deinem kleinwinzigen Köpfchen vorstellen könntest. Ja, ich lebe schon sehr lange hier und ich kenne die Antworten auf viele Fragen des Lebens.“ Aufgeregt flitzte die kleine Kaulquappe vor den tiefschwarzen Fischaugen des Welses hin und her. „Dann weißt du auch, wie es dort oben ist? Also dort draußen, an der Luft, an der Sonne, dort an der Oberfläche, am Ufer? Eines Tages, Wels, werde ich richtige Froschbeine haben, so richtige zum Springen! Und dann werde ich ans Ufer hopsen können. Wie mag die Welt dort draußen sein? Wels, kannst du mir das sagen?“ Doch zur großen Enttäuschung der kleinen Kaulquappe antwortete der Wels nur mit hämischem Gelächter. „Freu dich nicht, du Narr. Es wird dein Untergang sein. Die Welt dort draußen ist grausam, tödlich.“

Und auf den erschrockenen Gesichtsausdruck der Kaulquappe hin, erzählte der Wels von seinem Erlebnis mit dem Angler. „Damals war ich noch jung und strotzte nur so vor Tatendrang und Abenteuerlust. Ich verspeiste gerade einen Wasserläufer nach dem anderen, da geschah es plötzlich. Es ruckte und zuckte in meinen Kiemen, ein stechender Schmerz und eine unheimliche Macht zogen mich noch oben, an die Wasseroberfläche, zur Sonne hin. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer, ich röchelte, wurde über den Wasserspiegel gezogen, in die Richtung eines großen Körpers, der dort in einer runden, riesigen, hölzernen Schale stand und mich wild mit den Armen kurbelnd und rudernd wie von Zauberhand zu sich zog.“

Nur durch ein Wunder und mit geschickten Flossenschlägen hatte der Wels sich damals loszulösen vermocht, war gerade noch rechtzeitig ins Wasser geplumpst, um nach Atem zu ringen, konnte sein Leben retten. Seitdem sei er niemals wieder an die Oberfläche getaucht, er hätte sich hier unten nur von dem ernährt, was ihm vor die Nase schwamm. Und – so sagte der Wels – es sei auch noch nie ein Fröschlein, zu dem die kleine Kaulquappe zweifelsohne eines Tages werden würde, wieder zu ihm zurückgekehrt. Daraus schließe er, dass sein damaliges Schicksal wohl das Schicksal eines jeden sein müsse. „Dort draußen wartet nichts als Leid auf dich, mein Freund. Glaube mir. Es lohnt sich nicht, sich auf diese Welt zu freuen. Genieße die Tage, die dir noch bleiben, hier im seichten Ufergewässer, bevor dein Naturell dich nach draußen zwingt.“

Die kleine Kaulquappe dachte über die Worte des alten Wels noch lange nach, doch ihr heiteres, keckes Wesen und ihr Glaube an das Gute und Schöne im Leben verscheuchten bald all die düsteren Gedanken. Mit der Zeit wuchs die Kaulquappe heran, Froschärmchen und -beinchen bildeten sich. Und eines Tages war es soweit. Das frischgebackene Fröschlein wagte sich ans Ufer, testete das Atmen durch Lungen, blickte sich mit runden Glupschaugen um, ließ sich die ersten dicken Falter schmecken und quakte vor Glück. Der junge Frosch kletterte mit seinen Greifern auf die höchsten der Schilfrohre, um sich von dort vergnügt ins Wasser platschen zu lassen. Ein völlig neues Leben begann und vergessen schienen die Zeiten als schwarzes, winziges Etwas dort im seichten Ufergewässer. Doch eines abends hockte der Frosch gedankenverloren auf einem Seerosenblatt und sah der abendlichen Sonne beim Herabsinken und den Mücken beim Dämmerungstanz zu. Und da dachte es an den uralten Wels und an dessen Worte.

„Wels, Wels, wach auf!“ rief ihm der Frosch zu. „Ich schlafe nicht. Was willst du quakender Hüpfer?“ „Ich bin's Wels. Erinnerst du dich?“ Da machte der Wels die Augen plötzlich ganz groß und rund. Der kleine Frosch war zurückgekehrt. Und – er lebte! Er berichtete ihm von frischen, duftenden Wäldern, von dicken, wohlschmeckenden Brummern, von Blumenblüten, die auf dem Wasser schaukeln, von wärmendem Licht und von lauwarmem Sommerregen. „Die Welt dort oben ist gut, Wels. Die Welt ist wunderbar. Ich wollte, dass du das weißt.“ Der Wels entgegnete nichts. Aber auf seinem Gesicht schien sich ein Lächeln abzuzeichnen.

„Großvater, schau!“ Marie deutete so aufgeregt in eine Richtung, dass das kleine Fischerboot wie wild zu schaukeln begann. „Schau mal, der Fisch springt wie wild dort im Wasser herum!“ Der Großvater staunte nicht schlecht, als auch er den pausenlos aus dem Wasser hüpfenden, riesig großen Fisch erblickte. „Das ist doch nicht zu glauben. Der wirkt ja gerade so, als würde er sich so richtig des Lebens freuen, auf seine alten Tage. Nun ja, er hat ja auch allen Grund dazu. Die Welt ist wunderbar.“ Er nahm seine Enkelin bei der Hand. Und auf seinem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.