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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Marie, Marie!

Marie setzt sich ans Seeufer und packt ihre Schlittschuhe aus. Die Sonne macht noch keine Anstalten, die dunklen Wälder rund um den Wolfsgrubener See in ein freundliches Licht zu tauchen.
Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, und still ist es, viel zu still. Doch Marie muss sich sowieso konzentrieren. Nur mit großer Mühe gelingt es ihr, ihre kleinen Füße in die leuchtend weißen Stiefel zu stecken, die ihr gestern das Christkind gebracht hat. „Gut und fest sitzen müssen sie“, hat die Oma gesagt, beim Zuschnüren wird ihr trotz dämmriger Morgenkälte jetzt doch ziemlich heiß. Ob sich Carolina Kostner auch so abplagen muss? Als Weltmeisterin ist man wahrscheinlich so reich, dass man sich einen eigenen Schuhanzieher leisten kann. Aber Marie ist Marie, und die steht zum ersten Mal auf den Kufen, mit denen sie, wenn alles nach Plan läuft, bald voller Anmut und Eleganz die Welt begeistern wird.

Vorsichtig stakt Marie über die schneebedeckte Fläche hin zum blankgeputzten Eis. Eine Nebelkrähe wühlt, nicht weit von ihr entfernt, mit dem Schnabel im aufgetürmten Schneehaufen herum. Marie setzt die erste Kufe aufs Eis und stößt sich mit dem anderen Fuß kräftig ab, um ihr Schlittschuhlaufdebüt gleich mit einer gekonnten Schwalbe zu beginnen, genau so, wie sie es der begeisterten Oma gestern unter dem Christbaum vorgeführt hat. Noch bevor sie richtig losschwebt, setzt Marie auch schon zum Landeanflug an. Das Eis ist steinhart und tut richtig weh, die Krähe flattert auf und kreischt etwas, das sich wie „Marie, Marie!“ anhört.

Marie will „verflixt und zugenäht“ schimpfen, oder doch ein bisschen weinen, da sieht sie die Krähe neben sich auf dem Eis balancieren. Ganz leicht schlägt die mit ihren Flügeln und vollführt mit ihren seltsam aussehenden Krallen winzige Schritte auf der glatten Fläche: „Marie, Marie!“ Marie schaut die Krähe verblüfft an. Dann aber versucht sie wieder auf die Beine zu kommen, breitet ihre Arme aus und ahmt die kleinen Schritte der Nebelkrähe nach. Siehe da, es funktioniert! Die Nebelkrähe beginnt bald, längere Spuren zu ziehen, Marie gleitet wie von selbst hinterher. Plötzlich kreist eine ganze Schar Nebelkrähen über Marie, vollführt elegante himmlische Drehungen und kreischt im Chor: „Marie, Marie! Dreh dich wie nie!“ Marie setzt zur Pirouette an und beginnt sich zu drehen, formt eine Schwalbe, dreht sich schneller und immer schneller, dann macht sie sich ganz groß und breitet ihre Arme aus, bis der Himmel sie ganz sanft, wie in einem weichen Sog, hinaufzieht. Marie schwebt durch die Lüfte, Marie fliegt. „Marie, Marie!“ besingt sie die Krähenschar. Marie fühlt sich so großartig wie noch nie in ihrem Leben.

Ein seltsames Geräusch stört urplötzlich die himmlische Harmonie, die Vögel kreischen davon und Marie klatscht unsanft aufs Eis. Ihr wird schwarz vor Augen, und dann gleißend hell. Marie reißt die Augen auf.

„Na, du Schlafmütze“, grinst Papa. „Du wolltest doch unbedingt in aller Herrgotts Früh deine neuen Schlittschuhe ausprobieren!“ Marie springt aus dem Bett, fürs Frühstück hat sie jetzt keine Zeit, so schnell hat sie sich noch nie angezogen, und Papa hat schon alles ins Auto gepackt, Gott sei Dank!

Der Papa begleitet die aufgeregte Marie über die schneebedeckte Fläche hin zum blankgeputzten Eis. Auf dem Zaun sitzt eine Nebelkrähe und krächzt „Marie, Marie!“. Der Papa dreht sich zu der Krähe um und lacht. „Marie, hörst du das? Die Krähe hat gerade deinen Namen gerufen!“ Aber Marie hat sich längst aus seiner Hand gelöst und hört ihn gar nicht mehr, denn sie dreht schon ihre ersten, gar nicht so ungeschickten Runden auf dem Wolfgrubener See.

Ulrike Dubis
30. November 2015