DeutschItalianoEnglish
de
Jetzt buchen.
Bestpreisgarantie!

Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Wo die Wunder warten - Eine Weihnachtsgeschichte

von Sarah Meraner
Unzählige Geschichten und Mythen ranken sich um den Wolfsgrubener See. Man erzählt von Kobolden, die unter den Wurzeln hausen, und von sprechenden Tieren im Wasser. Man berichtet von geheimnisvollen Gestalten und merkwürdigen Begegnungen. Davon, dass Wünsche erfüllt werden und Wunder geschehen. Und immer wieder finden Menschen hierher, um Teil dieser Geschichten zu werden – so auch in diesem Dezember.
Eines Abends, es war der Abend nach dem zweiten Adventssonntag kam ein Maler an den Wolfsgrubener See. Wie so viele andere, war auch er auf der Suche nach einem Weihnachtswunder. Am Ufer begegnete er einem kleinen Mädchen. „Was machst du hier?“, fragte sie mit großen, braunen Augen. „Ich suche ein Wunder“, antwortete der Maler und blickte sich hektisch um. Doch alles, was er sah, war die dicke Eisschicht des Sees und die Wipfel der Bäume, die sich sacht unter ihren weißen Häubchen bogen. Aus den Häusern drang warmes Licht und es duftete nach Plätzchen – aber ein Wunder konnte er nicht entdecken. Wortlos sah er das Mädchen nochmals an, verabschiedete sich von ihm und ging enttäuscht wieder nach Hause.

Am nächsten Abend kam ein Wanderer an den See. Auch er war auf der Suche nach einem Weihnachtswunder. Am Ufer begegnete er einem kleinen Jungen. „Was machst du hier?“, fragte dieser mit großen, braunen Augen. „Ich suche ein Wunder“, antwortete der Wanderer und blickte sich hektisch um. Doch alles, was er sah, war die dicke Eisschicht des Sees und die Wipfel der Bäume, die sich sacht unter ihren weißen Häubchen bogen. Aus den Häusern drang warmes Licht und es duftete nach Plätzchen – aber ein Wunder konnte er nicht entdecken. Wortlos sah er den Jungen nochmals an, verabschiedete sich von ihm und ging enttäuscht wieder nach Hause.

Am dritten Tag kam eine Forscherin an den Wolfsgrubener See. Auch sie war auf der Suche nach einem Wunder. Am Ufer begegnete sie einem Fuchs mit großen, braunen Augen. „Was machst du hier?“, fragte sie ihn. Der Fuchs blickte sich hektisch um, huschte über die dicke Eisschicht des Sees und unter den Wipfeln der Bäume, die sich sacht unter ihren weißen Häubchen bogen, hindurch. Er lief in die Richtung der Häuser, aus denen warmes Licht drang – vermutlich roch er die duftenden Plätzchen. Die Forscherin war überrascht von dieser Begegnung, aber ein Wunder war das wohl auch nicht. Sie verabschiedete sich vom See und ging enttäuscht wieder nach Hause.

Der Maler aber, der am ersten Abend am See gewesen und wie die anderen enttäuscht kehrt gemacht hatte, war zurückgekommen. „Warum war so spät abends ein Mädchen alleine unterwegs am See?“, hatte er sich im Nachhinein verwundert gefragt und sich sofort wieder auf den Weg zum See gemacht. Dort schlug er sein Zelt auf, kroch in seinen dicken Schlafsack und wartete. Fast 24 Stunden lang passierte nichts. Der Maler sah den See ins nächtliche Schwarz eintauchen und beobachtete den Mond dabei, wie er sein Glitzern auf die Eisschicht des Sees pinselte. Er atmete die Stille ein, die er so schon seit langem nicht mehr vernommen hatte, und am Morgen freute er sich über die einzigartig märchenhafte Stimmung am See und die ersten Sonnenstrahlen, die ihm ins Gesicht fielen. Er lauschte dem verschlafenen Zwitschern der Vögel, den Geräuschen des erwachenden Waldes und den Kinderstimmen, die aus der Ferne zu ihm drangen. Zwischendurch wurde es ihm langweilig – dann holte er seinen Bleistift aus der Tasche und begann, das zu skizzieren, was er so vor der Nase hatte. Einen glitzernden Tautropfen auf einem Grashalm. Einen hüpfenden, trällernden Vogel unter dem weißen Baumwipfel-Hütchen. Den weiß schimmernden See. Und er freute sich über die vielen überraschenden Bilder, die ihm ganz plötzlich in den Sinn kamen. Als es wieder dunkel wurde, hielt er Ausschau nach dem wundersamen Kind. An diesem Abend entdeckte er einen Mann mit einem Rucksack und einer dicken Mütze auf dem Kopf, der sich hektisch umsah. Dieser begegnete keinem Mädchen, sondern einem Jungen. Und als am nächsten Abend eine Frau mit einem Fernglas an den See kam, beobachtete er, wie sie mit einem Fuchs sprach, und erhob sich aufgeregt.

Als der Fuchs nun zum Haus hinüberlief, aus dem der feine Keksduft kroch, folgte der Maler ihm. Der Fuchs, der ihn sogleich bemerkte, drehte sich um und blickte ihm tief in die Augen. Der Maler erstarrte, denn diese großen, braunen Augen hatten ihn bereits vor zwei Tagen angeblickt. Er begriff, dass vor ihm nicht nur das Tier, sondern auch das Mädchen und wohl auch der Junge standen, die ihm, dem Wanderer und der Forscherin allesamt am See begegnet waren. Da stand das Wunder, das er die ganze Zeit gesucht hatte, nun also direkt vor ihm. Ein fantastisches Wunder, das er auf den ersten Blick übersehen hatte – und das ihm doch die Augen geöffnet hatte, für all die kleinen Wunder ringsum. Wie den Tautropfen, die weißen Käpplein auf den Baumwipfeln und die dicke Eisschicht, die zum Spiegel des Himmels wurde. Und dieser Fuchs ... dieses Mädchen … dieser Junge … dieses Christkind! – oder wie man es auch immer nennen mochte –, dieses Wunder ... es war da. Der Maler verstand: Wunder warten überall. Und wenn man eines für sich entdeckt hat, dann kommen oft unerwartet ganz viele kleine hinzu.
Von jenem Abend im Dezember an würde er auf jeden Fall immer ganz genau hinsehen.

Bis nächsten Sonntag mit unserem neuen Türchen ;-)