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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Damals, heute und morgen – Teil 6

Den restlichen Sommer verbrachte Marie wie in einem Traum aus Kindheitstagen. Sie half zuhause mit und achtete darauf, viel Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen, ging in der Natur spazieren und las viel. Mit ihrem Vater stöberte sie in alten Sachen, die mal Großvater gehört hatten. Es waren vor allem Fotos, Bücher und auch alte Gemälde, für die Ludwig immer geschwärmt hatte. Seinen alten Plattenspieler durfte Marie in ihr Zimmer stellen. Dann hörte sie oft stundenlang Musik und rahmte Fotos von früher ein. Es tat ihr gut, Vergangenheit und Gegenwart zusammenzuführen.
Felix war tagsüber auf der Uni, aber abends trafen sich die beiden am See, um gemeinsam den Tag ausklingen zu lassen und zu quatschen. Sie mochte es, Felix’ Erzählungen über das Studium und das Nachtleben in Bozen zu lauschen und beneidete ihn um seine „normale” und alltägliche Welt. Während Felix schon seinen Weg gefunden hatte, spürte die junge Frau, wie sich auch für sie immer mehr die Frage aufdrängte, was sie mit ihrem Leben nun eigentlich anfangen sollte. Mit der Vergangenheit war sie im Reinen, sie war eins mit dem Hier und Jetzt, doch was war mit der Zukunft? Immerhin konnte sie nicht ewig in den Tag hineinleben. „Ich will auf jeden Fall hierbleiben, so viel steht schon mal fest. Studieren wollte ich eigentlich nie, eigentlich möchte ich viel lieber irgendwas arbeiten”, teilte sie ihren Gedanken mit ihrem Freund. „Und was möchtest du arbeiten?”, wollte Felix wissen. „Ich habe nicht die geringste Ahnung!” Sie wusste es wirklich nicht, aber vertraute darauf, dass sie es schon bald herausfinden würde. „Du wirst sehen, eines Morgens wachst du auf und dann weißt du es. Du bist eine Lebenskünstlerin, Marie. Und Lebenskünstler hören eh immer aufs Herz. Und außerdem … ich würde dich nun wirklich nicht in einem sterilen Hörsaal mit Normalos wie mich sehen”, stichelte Felix. „Crazy Marie!” „Hey!” Marie kniff ihm in den Finger, bevor Felix sie am Handgelenk erwischte. Dann blieben ihre Hände bewegungslos ineinander liegen. „Idiot”, feixte Marie noch zurück.

Der Nebel kam wie jedes Jahr pünktlich zu Novemberbeginn. Für die meisten Leute brachte er auch immer etwas Trübsinn mit sich, aber Marie liebte ihn, wie er Stadt und Land einhüllte und eine mystische Atmosphäre verbreitete. Marie genoss den Ausblick, den sie vom Bus aus hatte: Bozen und die goldverfärbten Weinreben blitzten heimlich zwischen weißen Nebelschwaden hervor, darüber ragten die schon angezuckerten Bergketten. Marie war etwas aufgeregt, immerhin war sie auf dem Weg zu ihrem ersten Vorstellungsgespräch seit … ja, seit Irland. Und obwohl sie nichts vorweisen konnte als ihre Leidenschaft für Kunst, Fotografie, Literatur und Musik, war sie überzeugt, dass das heutige Treffen mit dem Kulturveranstalter für sie gut ausgehen würde. Beim Gedanken daran, wie es ihr ergangen war, als sie vor neun Monaten mit dem Bus in die entgegengesetzte Richtung gefahren war, musste sie leise auflachen. Die Zeiten der Rebellion sind vorbei, dachte sie theatralisch.

Gedankenverloren merkte sie gar nicht, dass der Bus mittlerweile schon längst gehalten hatte. „Fräulein”, rief der Busfahrer in ihre Richtung. „Fräulein, wenn Sie hier nicht aussteigen, dann fahren Sie wieder mit hinauf auf den Ritten.” „Oh!” Marie zog sich ihre Mütze über den Kopf und eilte zur Tür. „Sie haben wohl nicht gemerkt, dass hier Endstation ist, was?”, schmunzelte der Busfahrer. „Das hier ist alles andere als eine Endstation!”, dachte Marie lächelnd und sprang aus dem Bus. Frohen Mutes eilte sie davon, bis sie der verdutzte Fahrer zwischen all den Menschen, Autos und den Häusern der Stadt nicht mehr erkennen konnte.