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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Zurück – Teil 4

Als Marie sich vom Grab ihres Großvaters entfernt hatte, zog sie sich Schuhe und Socken aus. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft fühlte sich Marie zufrieden. Oder zumindest etwas gelöster, und ihr Widerwille hier zu sein war nicht mehr ganz so stark. Die Sonne stand inzwischen etwas höher und es wurde langsam angenehm warm. Marie streifte alleine durch den Wald, barfuß, und spürte – während Erde, Wurzeln und Steine kühl und feucht und die Tannennadeln und kantigen Steine spitz und pieksend den Fußsohlen „Hallo€ sagten – wie sie sich langsam wieder eins fühlte mit der Natur und ihrem Zuhause. Die Sonnenstrahlen brachten den See zum Glitzern und das Grün des Waldes zum Leuchten. Marie hatte beides für sich ganz alleine. Zunächst...
… denn nach ein paar Minuten erspähte Marie ein Gesicht, das sie vor Jahren an genau demselben Ort, auf genau demselben großen, glatten Stein, schon mal sitzen gesehen hatte. Es war der mittlerweile sehr gealterte Fischer Habgier, der dafür bekannt war, Fische aus reinem Vergnügen und bloßer Habgier zu jagen. Als Marie ihm damals begegnet war, war er unfreundlich und böse gewesen und hatte den Riesenhecht des Sees für sich beansprucht. Zum Glück hatte er letztlich doch Einsehen gehabt und das Tier wieder in den See zurückgelassen. Marie wusste bis zum heutigen Tage nicht, warum er sich umentschieden hatte.
Schüchtern ging sie auf den alten Habgier zu, der noch immer denselben verbitterten und wütenden Ausdruck in den Augen hatte wie damals. Er hielt seine Angelrute fest in der Hand und wartete still. Maries Herz klopfte, denn sie wusste nicht, was sie zu ihm sagen sollte. Also setzte sie die junge Frau einfach etwas weiter weg auf eine große Wurzel, sagte nichts und blickte ins Wasser, wo Habgier seine Angel hineingeworfen hatte. „Du bist wohl nicht mehr so vorlaut wie früher, gell?”
Marie zuckte zusammen, denn sie hatte nicht bemerkt, dass der Fischer sie beobachtet hatte. „Ich erkenne dich”, grummelte er weiter. „Du bist die Marie, die mir den größten Fang meiner Karriere ruiniert hat … du mit deinem Besserwisser-Gerede. Dass du dich nochmal hierher traust!” Marie lief rot an und wurde wütend. Habgier hatte ihr den friedvollen Moment von eben zerstört. Sie fauchte ihn an: „Und du bist immer noch der wütende alte Fischer, den niemand leiden kann, weil er so unsympathisch ist und nur auf sich selbst bezogen! Du brauchst dich nicht wundern, dass du hier immer noch alleine herum hockst und dem Hecht hinterher jagst, den du nie wieder fangen wirst. Du wirst mit deiner Art bis zu deinem Lebensende alleine sein!” Habgier prustete los: „Haha, na sieh einer an, ganz schön frech geworden, das süße kleine Mädchen von früher! Aber sag mir eines: Seit du wieder hier bist … was unterscheidet dich von mir?”
Marie war etwas perplex: „Ich bin nicht wie du … Woher willst du ...” „Na, ein kleiner Sonnenschein bist du ja nicht gerade. Und die Menschen, die dich hier mit offenen Armen empfangen haben, auf sie bist du auch nicht unbedingt zugegangen. Streunst auch lieber alleine hier herum und machst dein Ding. So verschieden sind wir gar nicht. Und außerdem … wir haben beide einen guten Freund verloren, denn den Riesenhecht gibt es nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Er ist tot. Und nicht etwa, weil ich ihn gefangen und verspeist habe, wie ich es einst vor hatte. Ich hab ihn eines Tages einfach so mit dem Bauch nach oben hier am Ufer treibend gefunden.” Traurigkeit huschte über Habgiers Gesicht. Er sagte nichts mehr und auch Maries Worte blieben aus. Dafür spürte sie, wie wieder eine Träne über ihre Wange nach unten kroch. Was, wenn der Fischer tatsächlich Recht hatte? „Meine Güte“, dachte sie, „so einsam und verbittert will ich garantiert nicht enden. Und die Welt um mich ständig zu verachten und wegzustoßen, nein, das soll nicht mein Leben sein. Das bin nicht ich.” Und sie beschloss, Wolfsgruben wieder eine Chance zu geben. Sie stand auf, ging langsam zum Fischer und legte vorsichtig ihre Hand auf seine Schulter. „Es tut mir sehr leid, dass du deinen Freund verloren hast”, flüsterte sie. Dann machte sie kehrt und machte sich auf den Weg nach Hause. Als Marie sich noch einmal umdrehte, war das Plätzchen mit dem großen, glatten Stein leer – und der alte Fischer nirgendwo mehr zu sehen. Hatte sie sich das Gespräch von eben nur eingebildet? Etwas verwirrt, aber um eine wichtige Selbsterkenntnis reicher, ging Marie nach Hause. Ja – endlich ging sie wirklich nach Hause.