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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Ein kleiner Herzens-Schritt - Teil 3

Mittlerweile war Marie seit 5 Tagen zurück in Wolfsgruben, doch seit der Begegnung mit der Gschichtnklauberin hatte sie das Haus nicht mehr verlassen. Entweder half sie ihren Eltern bei der Arbeit oder verbarrikadierte sich in ihrem Zimmer. Das Gefühl zuhause fremd zu sein, konnte sie einfach nicht abschütteln.

Ihr war klar, dass es nicht hilfreich sein konnte, nur im Haus herum zu hocken, aber wenn sie nach draußen ginge, würden sie die Erinnerungen übermannen. Also chattete sie stattdessen ständig mit ihren irischen Freunden über Whatsapp und plante im Stillen, wann sie wieder zurückfliegen würde – und verbrachte Stunden über Stunden auf Facebook. Aus ihrer Social-Media-Lethargie weckte sie ironischerweise ein Video, das ihr eines Abends zufällig auf Facebook unterkam: „Tschaikowskys Violinkonzert op. 35”. Marie traf ein intensiver Erinnerungsblitz. Bilder. Gefühle. Der Sonnenaufgang mit Opa. Während sie gemeinsam Tschaikowski am Strand gehört hatten. „Verdammt …”, fluchte Marie und klickte auf das Video. Schon die erste musikalische Passage rief ein derart intensives Verlangen in ihr aus, an den See zu gehen, dass sie schließlich dachte: „Na gut, warum nicht. Einmal wird schon nicht so schlimm werden.” Zugegebenermaßen vermisste sie sowieso diese frühen Morgenstunden, in denen sie mal nur für sich sein konnte. So legte sie sich warme Kleidung zurecht und stellte den Wecker auf sechs Uhr.

„Du bist ja verrückt, Mädchen”, stöhnte Marie, als sie am nächsten Morgen tatsächlich von einem schrillen Ton aus den Federn gerissen wurde. Tja, es war schon etwas länger her, dass sie so zeitig den Tag begonnen hatte. Sie schlüpfte in ihre Kleider, schnappte sich noch eine große Decke und schlich sich aus dem Haus. Ihre Eltern schliefen noch und Marie hatte keine Lust zu erklären, warum sie an diesem Tag schon so früh auf den Beinen war.
Draußen war es still und die kühle, unverbrauchte Luft begrüßte die Heimkehrerin so vertraut wie der stille See und der noch schlafende Frühlingswald. Marie beschloss, ein Stückchen weiter nach hinten Richtung Scheune zu gehen, wo sie ihre Eltern nicht sehen würden – falls sie nach dem Aufstehen gleich aus dem Fenster schauen würden.

Dieser Platz am See schien ideal zu sein für den ersten Sonnenaufgang nach – wieviel Jahren? Es war seltsam, nach all der Zeit hier zu sitzen. Den Wald zu riechen, den Morgentau des Grases unter den Fingerkuppen zu spüren und auf etwas zu warten, woran sie ewig keinen Gedanken mehr verschwendet hatte. Marie steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und lauschte der Symphonie. Den sanften Violinen. Und während die Klänge durch ihren Körper jagten, begann der Himmel sich aufzulösen, in den wärmsten und durchdringendsten Farben. Und auch in Marie begann sich ein Knoten zu lösen, der so fest zusammengeknotet war, dass Marie jetzt erst merkte, wie schwer ihr das Atmen in den letzten Monaten gefallen war. Ihr wurde klar, wie sehr sie ihren Großvater vermisste und dass sie nichts dagegen tun konnte. Ganz im Gegenteil: So sehr wünschte sie sich gerade jetzt ihren Seelenverwandten her, an diesen Ort. Dass sie wieder zusammen Tschaikowski lauschen und den Tag begrüßen könnten. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Großvaters weinte Marie. Sie weinte und weinte und konnte gar nicht mehr damit aufhören.
Etwas später stand Marie am Grab von Ludwig. „Es tut mir leid, dass ich noch nie hier war. Ich …” Irgendwie fehlten ihr in diesem Augenblick die Worte. Aber vielleicht musste sie auch gar nichts sagen. Vielleicht reichte es, dass sie einfach nur hier stand und ihm zumindest mit dem Herzen endlich wieder ganz nah’ war.