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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Licht - Teil 2

Nach dem ersten gemeinsamen Mittagessen beschloss Marie, sich in ihr altes Kinderzimmer zu verkriechen. Eigentlich wollten ihre Eltern sich noch mit ihr gemeinsam die Füße vertreten und ihr “zeigen, dass sich nicht viel verändert hat in den letzten zwei Jahren€, aber das wusste Marie ohnehin schon.

Völlig erschöpft von der endlosen Fragerei ihrer Mutter ließ die Heimkehrerin sich samt Kleidung und Schuhen rücklings ins Bett fallen. Wow, war es hier still … nicht das kleinste Geräusch war zu vernehmen und es kam ihr so vor, als wären alle Eindrücke der letzten Monate und Jahre weiter weg, als sie es tatsächlich waren. Die Stille drückte ihr auf die Brust und ein beengendes Gefühl breitete sich in Marie aus. Sie setzte sich auf, holte ihre Kopfhörer aus dem Rucksack und drehte ihren Lieblingssong so laut auf, dass es schon fast in den Ohren weh tat. Marie atmete tief ein und schloss die Augen. Irgendwie schaffte sie es tatsächlich auf dem Boden sitzend und mit grölender Musik in den Ohren einzuschlafen.

Als Marie wieder aufwachte, begann es draußen schon zu dämmern. Der Akku ihres Handys war leer und somit die Musik aus. Da sah sie das Büchlein der Gschichtnklauberin auf dem Nachtkästchen liegen, das Marie vor Jahren geradezu verschlungen hatte, und nahm es in die Hand. Schmunzelnd erinnerte sie sich daran, wie Felix und sie als Kinder die Schriftstellerin als verrückt empfunden hatten, weil sie immer alleine und stets in skurriler Kleidung am See herumgelungert war. Erst ihr Großvater hatte ihr dann erzählt, was die Gschichtnklauberin tatsächlich trieb, dass sie auf Geschichtensuche war, um diese dann in einem Buch über den Ritten festzuhalten. Marie blätterte darin, bis sie zu Felix` und ihrer Geschichte kam und diese in einem Rutsch las.

Ein Foto fiel aus dem Büchlein. Sie schaute auf ein Bild, das sie und ihren Großvater Ludwig vor drei Jahren zeigte, auf der Brücke sitzend. Lachend. Marie kannte das Bild nicht, aber sie erinnerte sich an jenen Nachmittag. Es war der Nachmittag, an dem Marie das letzte Mal mit ihrem Großvater gesprochen hatte, an dem er ihr noch ein letztes Mal Geschichten vom See erzählt und sie in den Arm genommen hatte. Nach diesem Nachmittag war alles anders geworden.
Marie spürte die Wut und die Verzweiflung, die in ihr hoch kochte. Warum hatte sie damals nichts bemerkt? Ludwig war anders gewesen an jenem Tag, vielleicht hätte sie noch länger mit ihm sprechen sollen. Vielleicht hätte sie …
Die Gedanken der aufgewühlten Marie wurden durch einen Lichtstrahl unterbrochen, der durch ihre Fensterscheibe fiel. „Was zum …” Sie stand auf und erspähte durchs Glas die Gschichtnklauberin, wie gewohnt in einem außergewöhnlichen, weißen Tüllkleid. Sie irrte sich nicht, sie war es tatsächlich! Was die Alte wohl wieder vorhatte?
Marie schnappte sich ihren Kapuzenpulli und kletterte aus dem Fenster. Auf ihre Eltern zu treffen hatte sie heute keine Lust mehr, stattdessen mühte sie sich lieber über den großen Baum nach unten ab.

Es dauerte nicht lange, da entdeckte die Gschichtnklauberin die junge Frau mit der schwarzen Kapuze über dem Kopf..
„Ich dachte, meine alten Augen wären nicht mehr die Allerbesten, doch jetzt, ja jetzt, da sind sie ganz klar. Ich erkenne dich wieder, kleine Marie”, lächelte die Gschichtnklauberin und Marie lächelte schüchtern zurück. Verwundert darüber, wie alt sie doch geworden war, fragte diese: „Sind Sie wieder auf der Suche nach Inspirationen?” „Das bin ich immer, natürlich. Aber: Sind wir das nicht alle? Auf der Suche, meine ich?” Marie stammelte: „Ähm … naja, kann sein. Manchmal wahrscheinlich schon …” Die Alte lachte und wedelte ihre Taschenlampe von ihren rosa Stöckelschuhen zum Haus und dann zu Maries verschränkten Händen. „Ach, Liebes! Wir sind immer auf der Suche, aber das ist gut so. Dann bleiben wir nicht stehen und unsere Taschenlampe findet immer wieder Neues, Unbekanntes in der Dunkelheit.” „Zum Glück ist es ja nicht immer dunkel.” Marie versuchte aufheiternd zu sein. „Da hast du Recht. Zum Glück ist es nicht immer dunkel. Aber manchmal, da kommt es einem so vor, als ob sich das Licht und all die schönen Dinge um uns herum verstecken, nicht wahr? Wenn wir geliebte Menschen verlieren, zum Beispiel.”
Die Gschichtnklauberin blickte Marie wartend an. Diese schwieg. Sie wollte nicht über ihren Großvater sprechen. Die Alte, die Ludwig selbst ja gut kannte, fuhr fort: „Wenn wir Menschen vermissen, wird es dunkel. Aber wenn Menschen fort sind, dann leuchten sie uns auch den Weg. Wir müssen nur hinschauen.”
Marie schwieg noch immer und hielt ihren Blick geradeaus auf den See gerichtet.

„Und hops, und hops, da war doch ein kleiner Frosch. Wo er wohl hinspringen mag? Wenn das nicht nach einer neuen Geschichte schreit,” jubelte die Gschichtnklauberin und kroch auf allen Vieren mit der Taschenlampe der Kröte hinterher und verschwand in der Dunkelheit.
„Die ist ja noch abgedrehter als früher”, murmelte Marie und starrte hinaus zum See, den die Nacht zu verschlucken schien. Tja, es war nun mal dunkel. Und wie sie so in die für sie unausweichliche Dunkelheit starrte und den nächtlichen Geräuschen des Sees lauschte, zog ein Glühwürmchen vor Marie seine Runden. Es war erst Ende April und noch viel zu früh und zu kalt für die kleinen Leuchtkäfer. Aber da war tatsächlich einer. Und das genau vor Maries Augen.