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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Das Wolfsgrubener Sternenlied

Diese Geschichte trägt sich im Frühling zu. Alle Pflanzen drängen nach oben, alle Köpfe der Menschen und Tiere strecken sich der Sonne und dem pollengefluteten Himmel entgegen. Selbst nachts wachsen die hellgrünen Blätter. In frühlingshafter Aufregung ahnt die Wolfsgrubenwelt es bereits – dieser Frühling birgt ein Geheimnis und ist bereit, es zu lüften.

Im Wald piepst die Wachstumsuhr, sie dreht ihren Zeiger und schüttelt das „Spar“ aus dem winterlichen Energiesparmodus. Aufgeregt und unruhig will alles rund ums Wasser nur eines: Bewegung! Und das so viel wie möglich. Der See selbst wird vom Schmelzwasser ein bisschen breiter, am Ufer werden die ersten Zehen von kleinen Wellen gekitzelt und es gluckst vielversprechend in der Erde. Auch vor den Häusern rundum werden die Winterschwaden weggekehrt. Die Leute kramen ihre Sonnenbrille heraus und setzen sie auf die Nase, niesen einmal, manchmal zweimal, weil es sich so gut anfühlt, und schieben die Schultern nach hinten, denn das hebt den Blick und lässt den Frühling durch alle Herzen fließen. Unterirdische Seemuscheln, die bislang noch kein Wissenschaftler entdeckt hat, klappern vergnügt mit den Zähnen. Auch Hecht, Specht, Ameisen sind schon an der Arbeit, und selbst wenn Marie es noch nicht weiß: Es kommen aufregende Zeiten auf die Seewelt zu.
Im frühen Frühling gibt der Wolfsgrubensee nämlich einen Schatz frei. Die Frau des Försters, die selber keine Försterin, sondern eine Gärtnerin ist, beginnt damit, zwischen den natürlich gewachsenen Seegräsern am Seeufer Wasserpflanzen aus aller Welt zu setzen, weil ein wildwuchernder Ufergarten schon immer ihr Traum war und man sich seine Träume erfüllen soll.
Während sie in der schlammigen Erde gräbt und kleine Setzlinge pflanzt, hält sie plötzlich eine Steinplatte in der Hand, die bestimmt 10 Kilogramm schwer ist. Sie spült den Schlamm im Seewasser runter, um zu sehen, was denn da zum Vorschein kommt. Zufällig flaniert gerade die Professorin für Archäologie vorbei, die auch heuer wieder ihren Sommer am Ritten verbringt und gerade ihre morgendliche Spazierrunde um den See unternimmt, und als sie die Steinplatte genauer betrachtet, werden ihre Augen ganz groß und ihre Stimme ganz zitterig vor Aufregung. In einer sehr alten Sprache steht dort in acht Versen ein kleiner geheimnisvoller Text. Ein Sensationsfund, das ist augenblicklich klar! Binnen eines Tages wissen alle rund um den See, dass hier etwas Besonderes ans Licht getragen wurde: „Wolfsgrubener Verse“ wird der noch nicht entschlüsselte Schriftsatz genannt und steht in den kommenden Wochen in aller Munde – und auch in den Zeitungen.
In diesen Tagen gärtnert Marie mit der Förstersfrau, welche so überraschend wie unfreiwillig zum Star geworden ist. Am Anfang noch war sie ganz schön stolz darauf gewesen, ständig nach dem Was und Wo und Wie befragt zu werden. Irgendwann aber besann sie sich wieder darauf, warum sie die Uferpflanzen so sehr liebt: Weil die sich im Wind wiegen und zur Sonne strecken, sanft sind und ohne Worte auskommen. Von da an widmet sie sich wieder voll und ganz ihrem Uferwildgarten und Marie hilft ihr dabei, ohne viel zu reden.

Erst viel später findet man heraus, dass die „Wolfsgrubener Verse“ eigentlich ein Liedtext sind. Und zwar nicht nur irgendeiner, denn die Zeilen erzählen eine Geschichte, die noch nie zuvor jemand gehört hat: die von der Wolfsgrube, die dem See seinen Namen gab.
Vor sehr langer Zeit hatte man am Rittner Hochplateau nämlich einem Wolf eine Grube gegraben, man wollte ihn mit sehr viel Wasser aus dem Leben drängen, ihn sozusagen umbringen. Vor dem Wolf hatten sie nämlich alle Angst – und das nicht erst seit Grimms Rotkäppchen. Das gefürchtete Tier aber ließ sich nicht so leicht vertreiben und schwamm immer wieder aus der Grube, heulte Nacht für Nacht in den Himmel, weil es auf Erden ganz allein war, es dort keiner haben wollte und es darum oben am Himmel neue Freunde suchte. Der Wolf heulte so laut, dass sich die Sternchen bald schon seiner Einsamkeit erbarmten und ihn zu sich hinauf holten. So war letzten Endes allen geholfen: Der Wolf musste nicht mehr allein sein, die Menschen konnten ohne Angst leben und die Nacht wurde um ein paar Sterne reicher.
Das ist die Geschichte, deren Verse dort, in die wundersame Steinplatte gemeißelt, von der Entstehung des Wolfsgrubensees erzählen und fortan nur mehr: „Das Wolfsgrubener Sternenlied“ genannt werden.