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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Habgier und Hecht

Ausgelacht hatte er die anderen Fischer, als diese ihn von seinem Vorhaben abbringen wollten. „Das kannst du nicht machen,“, hatte einer von ihnen gesagt, „der Ein-Meter-Zwanzig-Hecht ist das Urgestein des Wolfsgrubener Sees, du darfst ihn nicht mitnehmen!“

Und wie er das konnte, er, der Fischer, den hier in der Gegend alle nur Habgier nannten. Der verschrien war wegen seines unstillbaren Bedürfnisses, einen Fisch nach dem anderen aus dem See zu ziehen, nicht der Leidenschaft wegen, nein. Er raubte sie, verspeiste so viele davon, wie er konnte – und was er mit all den übrigen Tieren machte, daran wollte man gar nicht erst denken. Habgier belächelte die anderen Fischer, die ihre Fänge immer nur am Nacken kraulten, ein Andenkenfoto schossen und sie dann wieder ins Wasser warfen. Sie hatten ja keine Ahnung. Die Fischerei war in seinen Augen eine Viehjagd, nichts weiter.
Habgier kannte den Wolfsgrubener See und dessen Fische in- und auswendig. Er setzte sich stets an jenes Plätzchen am See, von dem er genauestens wusste, dass es der beste Platz zum Angeln war. Nicht nur den heutigen Tag würde er hier verbringen, nein, er wusste, dass es auch eine Woche oder länger dauern könnte, bis der Hecht anbeißen würde. Wer weiß, wann er zum letzten Mal gefressen hatte! Die winterlichen Temperaturen waren für das Tier kräfteraubend, weshalb es sich seine Raubzüge gut einteilte. Aber das war dem unersättlichen Fischer egal; er bekam immer, was er wollte – und so würde es auch diesmal sein. Er hing einen toten Köderfisch an den Haken und warf die Angel ins Wasser. Einatmen. Ausatmen. Abwarten. Das stille Los des einsamen Fischers.
Nach Stunden war noch immer nichts passiert. Es war kalt und unfreundlich heute und Habgier wusste, dass man ihn als Menschen genauso wahrnahm: Distanziert und nicht besonders sympathisch, aber eigentlich liebte er diese Eigenschaften an sich. Sie machten ihn unantastbar. Als er so dasaß, Hände und Gesicht tief in seine Thermokleidung vergraben, den Blick fest auf den stillen See gerichtet, hörte er tapsende Schritte und eine samtzarte, summende Stimme. Es war ein Mädchen, das auf ihn zukam. „Hallo, ich bin Marie und wer bist du? Du bist reichlich spät – du hast die anderen Fischer heute schon verpasst.“, sagte sie fröhlich und wartete auf eine ebenso freundliche Antwort. „Die anderen Fischer interessieren mich nicht. Und jetzt verschwinde, du machst zu viel Lärm. Du verscheuchst ihn mir ja noch.“, grummelte Habgier. „Oh, entschuldige bitte …“, flüsterte Marie und setzte sich neben den griesgrämigen Fischer. „Auf wen wartest du denn?“ „Na auf den Riesenhecht. Ich fange ihn, erschrecke dich damit, nehme ihn mit nach Hause und koche mir ein anständiges Mahl damit!“ Marie wurde ganz blass. „Du willst den Riesenhecht verspeisen? Aber er ist doch unser Hausfisch hier am See …“ „Nicht mehr lange. Bald ist er der Fisch in meinem Bauch!“, lachte Habgier gehässig, „Und jetzt mach, dass du verschwindest. Ich mag nämlich keine Kinder.“
Enttäuscht und zutiefst traurig machte Marie schon Anstalten, weiterzugehen. Dann fand sie, dass sie dem unfreundlichen Fischer noch etwas Wichtiges sagen sollte, das sie von ihrem Opa gelernt hatte: „Weißt du, ein jedes Lebewesen hat seine Daseinsberechtigung und eine natürliche Verbindung mit dem nächsten Lebewesen. Pflanze und Tier. Tier und Mensch. Mensch und Natur. Es ist ein Kreis, der lebt. Du musst nur genau hinsehen. Und du erblickst in jedem Lebewesen eine Seele.“ „Verschwinde jetzt. Pfiati.“, schnaubte Habgier nur.
Marie lief weiter und war sich nicht sicher, ob ihr Opa tatsächlich richtig lag mit diesem Seelending. Dieser Fischer jedenfalls schien keine zu besitzen. Habgier schüttelte den Kopf über die neunmalklugen Worte des Mädchens. „Was weiß ein Kind schon vom Leben!?“, brummte er leise und widmete sich wieder wichtigeren Dingen. Wie er schon vermutet hatte, musste Habgier einige Tage am See ausharren. Der Hecht schien einfach keinen Hunger zu bekommen. So hatte der raffgierige Fischer viel Zeit. Zeit zum Nachdenken, was er sonst nie tat. Aber aus irgendeinem Grund hallten die Worte der kleinen Marie immer wieder durch seinen Kopf, mal waren sie lauter, mal leiser, aber schließlich schaffte es Habgier immer, sie zum Schweigen zu bringen. Verschwinde jetzt. Pfiati.
Es war der siebente Tag zur frühen Morgenstunde, es begann gerade eben zu dämmern, da zog es plötzlich an der Angel. Es war so weit. Habgier umklammerte die Rute fest und zog dagegen. Es musste der schwere Brocken sein, auf den er so lange gewartet hatte. Er merkte, wie das Adrenalin in ihm hochschoss, sein Herz lauter klopfte und seine Konzentration vollends auf das Tier im Wasser gerichtet war. Jetzt durfte er keinen Fehler machen, sonst war alles umsonst gewesen. Das Warten, das Ausharren in der Kälte. Als der Hecht nachließ, senkte er die Rute, um sie dann wieder ordentlich anzuheben. Ein erneutes Gegenziehen. Die Wasseroberfläche wurde unruhiger und unruhiger. Tier und Mensch. Mensch und Natur. Die Kraft des Hechtes wurde wieder geringer und Habgier senkte die Angelrute erneut, dann hob er sie kräftig an. Das Wasser spritzte und der Ein-Meter--Zwanzig-Hecht schoss an die Oberfläche, windete sich, die Schwanzflosse ruderte hin und her, er kämpfte, rang nach Atem. Dieses Monstrum von Fisch hatte nur noch den einen puren Ur-Instinkt: Den Kampf ums Überleben. Habgier zog den Riesenhecht an. Er hatte ihn! Es war unglaublich. Seine Hände zitterten, als er den Raubfisch endgültig aus dem Wasser zog und seine kalten, nassen Schuppen berührte. Den grünen Fischkörper mit den wunderschönen gelben Flecken. Unter seinen Fingerkuppen konnte Habgier das Herz des Tieres pulsieren spüren. Der 20 Kilogramm schwere Koloss starrte ihn an, schaute ihm direkt in die Augen. Mit einem Mal wurde es noch stiller am Wolfsgrubener See als bisher. Alle Geräusche der Welt schienen in den dunklen, beseelten Augen des Raubfisches zu versiegen. Was erkannte Habgier da nur in ihnen? Ein Flehen? Resignation? Du musst nur genau hinsehen. Und du erblickst in jedem Lebewesen eine Seele. Die zwei Kämpfenden am Seeufer blickten sich an. Achteten einander. Verstanden. In diesen Sekunden veränderte sich etwas in Habgier. Das Machtgefühl verschwand und eine seltsame Wärme machte sich breit. Und er löste den Angelhaken aus dem riesigen, zuckenden Maul, hielt das Tier ein paar Sekunden in seinen Händen, um es dann sanft zurückgleiten zu lassen in den bitterkalten Wolfsgrubener See.
Marie hatte vom anderen Ufer aus alles mit angesehen und war froh, dass ihr Großvater wie immer Recht gehabt hatte. Ein jedes Lebewesen hat eine Seele.