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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Kirschen und ein Knall

Während die Liebespärchen einander die Brötchen und Früchte reichten, damit sie sich dabei besonders lange in die Augen sehen konnten, schlängelten sich die Hunde samt ihrer Besitzer durch die gefleckten Menschenansammlungen im Gras und überlegten, ob sie einander von der Leine lassen sollten. Denn der Sommer und die Freiheit gehört zusammen wie das Ufer und der See.
„Wie sind denn eigentlich deine Eltern so?“, fragte Philipp nebenbei, mit den Händen in der Hosentasche. Marie und er schlenderten gerade an den gestreiften Picknickdecken der Paare, Dreikopffamilien und Teenager-Cliquen vorbei, die den Wolfsgrubner See umzingelten und sich in einer Schwade von Sonnencremedüften vergnügten.
Marie dachte nach: „Meine Mama mag Kirschen und sie spielt Schach am Küchentisch mit sich allein, immer wenn sie nachdenken muss. Mein Papa filmt sie manchmal dabei. Der will immer Spaß machen und sie ablenken. ‚Was macht der Hund im Garten?‘, sagt er, oder: ‚Hilfe, was war das?‘. Dann stibitzt er ihr die Kirschen oder eine Schachfigur vom Brett. Sie fällt wirklich jedes Mal darauf rein und dann muss sie lachen und hört auf mit dem Nachdenken.“ Marie kicherte auch und linste zu der Kirsche, die gerade im Mund einer Frau mit langen haselnussbraunen Locken verschwand.

Ein lauter Knall ließ im Umkreis von fünfzig Metern die Köpfe aller Picknick-Pärchen und Sonnenbadenden hochschrecken. Aufgescheucht düsten drei kleine Hunde mit wuscheligem Fell an ihnen vorbei, wobei der erste sich aufgrund seiner Geschwindigkeit überschlug, der zweite über ihn stolperte, eine Rolle machte und fast auf einem Herrn landete, während der dritte ihnen beiden auswich und, wer von den beiden hat sich wohl mehr erschrocken, diesem Herrn auf den Bauch sprang. Herr Stieglitz, der jedes Jahr zum Urlaubmachen an den See kommt, lag diesen Sommer als einziger alleine auf einer rot-gelb-grau karierten Decke und hielt die Hände vor seiner Brust verknotet, da er sich gerade etwas zu einsam fühlte. Aus dem Nichts landete etwas Weißes auf seinem weichen Bauch und mit einem tiefen „Uou“ und einem ungewöhnlich athletischen Satz, sprang Herr Stieglitz blitzschnell in die Höhe und katapultierte mit drei Ausfallschritten sich und das weiße Hündchen ins Wasser. Es spritzte weit auf und die prickelnd kalten Wassertropfen flogen auf die Nachbarsdecke zur Frau mit den lockigen Haaren, die von Kopf bis Fuß besprenkelt wurde. Sie piepste erschrocken auf, hüpfte ebenso in die Höhe und prustete dann los. Herr Stieglitz und der platschnasse Hund schauten sich verdutzt an und keiner von beiden begriff so ganz, was gerade passiert war. Dann blickte Herr Stieglitz etwas verlegen zur Dame mit den lockigen Haaren, die Milba hieß, und murmelt eine Entschuldigung.
Sie grinste noch immer und reichte ihm die Hand, während er ans Ufer watete, was mit nassen Hosen an den Beinen gar nicht so einfach war. Der Hund strampelte Richtung Ufer, schüttelte sich genüsslich und spritzte alles und jeden im Umkreis von zehn Metern nochmal ausgiebig nass. Auch Philipp und Marie kriegten einige Tropfen ab, während die Besitzer der drei Hunde keuchend herbeirannten, sie einzufangen versuchten und gleichzeitig nach allen Richtungen „Entschuldigung, entschuldigung“ murmelten.
Das Wasser hatte Herrn Stieglitz wachgerüttelt. Wachgerüttelt heißt, dass Peter Stieglitz ein Blitz getroffen hatte, dass das Leben ihn mit einem langen Finger angestupst hatte, ihm mit einem Knall, einem weißen Hund und einem Kirschmund gelockt hatte, damit er endlich aufhörte zu grübeln. Das tat Peter nämlich gern. Er hatte auch gar keine Zeit, sich über den Schrecken zu ärgern oder sich vor den Blicken oder dem johlenden Klatschen der Leute zu schämen. Milbas Kirschmund mit seinem Lachen war zum Zentrum seines Entzückens geworden und das blieb es für viele Jahre. Er stand in Milbas Bann, setzte sich zu ihr, begann mit ihr zu reden und hörte damit lange nicht mehr auf.
Keiner dachte mehr an den Knall oder woher er kam.