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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Tschaikowsky am Strand

Der Mond tauchte seinen Pinsel tief in den Glitzer-Glamour-Weiß-Farbtopf und zog mit gekonntem Schwung hauchzarte, silbrig glänzende Streifen über den Wolfsgrubener See. Mit einem winzigen Fingerdeut zeigte er der nächtlichen Brise den Takt an. Mit einem kaum merklichen Hauch brach sie die gläsernen Fäden des Mondes mittels fein gepusteter Kräuselwellchen in minutiös gezeichnete Lichtreflexe, die wie kleine Prinzessinnen windschnell über den See tänzelten.
Der Mond seufzte. Die Brise hielt inne. Sofort verwandelte sich die Wasseroberfläche in ein spiegelglattes, leuchtend weißes Parkett, auf dem ein einzelnes fallendes Herbstblatt ganz langsam wundersame schwarzweiße Kreise auseinandertreiben ließ.
„Großartig“, schmachtete eine Stimme aus der Ferne, „was spielst du da für eine wundersame Melodie, lieber Freund?“ Der Mond seufzte erneut. „Du hast leicht reden, liebe Sonne! Seit Jahren schon versuche ich Tschaikowskys Klavierkonzert Nummer Eins über den See zu spielen, aber es kommt letztlich immer nur dasselbe raus: Chopin, diverseste Sonaten, die wollen mir wohl gelingen, aber alles in Moll, keine Chance. Nicht mal den ersten Takt bringen wir zusammen.“ und der Mond deutete fast verächtlich auf die nächtliche Brise, die sich schwer beleidigt hinter die Fichten zurückzog.
„Nichts gegen Chopin“, meinte die Sonne streng. „Eh nicht“, sagte der Mond. „Das Klavierkonzert von Tschaikowsky ist übrigens auch in Moll“, belehrte die Sonne. „Weiß ich eh“, gab der Mond zu.
„Ich habe dich gesehen, wie du mit der Bora Symphonien des Glück über dem Mittelmeer gespielt hast“, brauste der Mond dann auf. „In C-Dur!!! Im Hochsommer. Um drei Uhr am Nachmittag. Wie die Menschen sich in den bunten Glitzerstücken über dem Meer verloren haben, sogar ganze Schiffe haben angehalten und sogar Delphine sind glückselig über diese einmalige Tröpfchen-Glitzerpracht gehüpft! Posaunen überall, der Flügel in fortissimo!“
„Das war schön, ja“, lächelte die Sonne. „Aber weißt du was, lieber Mond? Das Leben in C-Dur wird auf Dauer auch nur langweilig, da gibt es keine wirklichen Höhen und Tiefen. Es läuft immer gleich dahin, ohne Sinn für Romantik, keine fein gezeichneten Pinselstriche, immer nur auf Haudrauf.“
Da musste der Mond nachdenken. Und die Sonne musste auch nachdenken. Dieses Nachdenken dauerte bis tief in den Oktober hinein. Bis zu jenem Sonntagmorgen, als sich die bunten Herbstblätter über dem See zum weißen Licht des Vollmondes das purpurne Gewand der Morgenröte überzogen und ganz plötzlich eine feine Melodie erklang. Violinen ergossen sich über dem golden strahlenden See, dann ein Solo, zart wie Seide. Tschaikowskys Violinkonzert op. 35. Die Sonne zerdrückte Tränen der Rührung, als der Mond seine Brise wie eine Göttin über den See tanzen ließ, dann zwinkerte er der Sonne aufmunternd zu, die folglich, im Lichte des Sonnenaufgangs, ihr Orchester wie Wogen über den See jagte. In D-Dur.
Der Großvater und Marie ziehen sich die Ohrstöpsel raus und schauen über den See. „Wie geht das, dass etwas so schön ist, dass ich fast weinen muss und zugleich ganz froh werde? So einen schönen Sonnenaufgang hab ich noch nie gesehen.“ Da muss der Großvater Marie ganz fest und stolz an sich drücken.