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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Junisee

Wind und Wasser von allen Seiten, ohrenbetäubendes Krachen. Das Wetterkirchlein bimmelt schon seit Minuten die aufgeregten Kühe in den Stall, Hennen gackern in ihre Verschläge, deren Abdeckplanen sich schwanger vom Wind aus den Verankerungen zu lösen drohen, flattern davon, dürfen heute ausnahmsweise in den Stall.
Wie schwere Segel schreien und ächzen die Äste der Fichten im Sturm, und schwarz und schwer bebt der See unter ihnen. Dann, plötzlich, springt eine Flut abertausender Hagelkörner wie eine tänzelnde Insektenschar auf die schäumende Wasseroberfläche, klingelt an Laternenpfählen und hämmert und tost vehement auf das Wellblechdach des alten Bootshauses. Im Bootshaus ein Aufschrei, wimmernd klammert sich Marie an Felix, und Felix klammert sich an Marie. Dann, gesättigt von den Unwettern der letzten Tage und einem frischen Windstoß, beginnen die Wellen wütend am Steg zu reißen, wälzen sich, gestärkt vom reichlich fallenden Wasser, über die stöhnenden Bretter und stürmen schließlich das Bootshaus, wo sie sich gierig an den Beinen von Marie und Felix festklammern.

„Wir müssen hier raus und zum Hotel rüberlaufen“, versucht Felix das wild geifernde Wasser auf dem Wellblechdach zu übertönen. „Bist du wahnsinnig, damit uns der Blitz derschlagt?“, schreit Marie und zupft und rüttelt an Felix‘ Gewand, als wollte sie die Unvernunft aus ihm raus schütteln. „Und wenn der Blitz in den See einschlägt, sind wir genauso tot!“, kontert er und schaut nach unten – Marie tut es ihm gleich. Sie stehen knietief im Wasser. „Ins Boot“, schreien sie gleichzeitig. Sie schaffen es gerade noch, über den Bootsrand zu klettern, als ein beißendes Licht in Maries und Felix‘ Welt dröhnt. Und plötzlich wird alles still und hell und friedlich.

Ein Donner brüllt die beiden Kinder aus ihrer Ohnmacht. Marie und Felix spüren ihre Hände und Füße nur mehr schwer, dann wieder, Blitz und Donner. Da brüllen die Kinder plötzlich aus Leibeskräften, ihre Schreie werden lauter und lauter, übertönen das Wetter, das Leben und schließlich die ganze Welt.

„Weißt du noch, Opa?“, sagt Marie und schaut aus dem Fenster hinaus auf den See, wo sich die Wolken wieder zu einem neuen Angriff auftürmen. „Oh ja! Das weiß ich noch“, sagt der Opa, diesmal lacht er nicht, so wie sonst immer. „Du weißt schon, dass die Feuerwehrleute ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben?“ – „Hast du schon ganz oft gesagt, Opa! Aber das ist jetzt auch schon ein Jahr her, eine Ewigkeit!“, seufzt Marie. Da lacht der Opa wieder, Gott sei Dank! „Dass ein Mensch so laut brüllen kann wie du und der Felix, das ist mir heute noch ein Rätsel“, sagt der Opa dann, „denn wer hätte ahnen können, dass ihr beiden Lauser euch im Bootshaus versteckt habt?“

Die Kellnerin huscht lächelnd am Tisch vorbei, hält kurz inne und schaut besorgt aus dem Fenster. „Opa, darf ich noch einen Kakao haben, bitte?“