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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Ein Schiff wird kommen...

Die alte Mena steht ganz draußen am Steg und schaut auf den See hinaus. „Was macht die alte Frau da, und was murmelt sie in den See hinein?“ flüstert Marie und stubst den Großvater in die Seite.

...„Ein Schiff wird kommen …“, singt der Großvater laut und lacht. „Hast du sie noch nie gesehen? Das ist die alte Mena, sie wartet auf das große Passagierschiff, das von Genua nach New York fährt. Sie steht oft da am Steg und wartet – bis der brave Christian kommt und sie wieder ins Pflegeheim zurückbringt.“
Die alte Frau tut Marie leid. „Aber hier am Wolfsgrubener See fahren ja gar keine Schiffe, schon gar nicht nach New York. Und woher weißt du das alles überhaupt?“

Da fängt der Großvater an zu erzählen. „In ihren jungen Jahren wurde die Mena zu einer noblen Familie in Genua geholt, weil sie so hübsch und tüchtig war. An ihren freien Tagen durfte sie ans Meer, was für eine junge Frau aus unserer Gegend was ganz besonderes war. Dort lernte sie einen jungen feschen Matrosen kennen, der ihr versprach, dass er sie heiraten und auf seinem Schiff mitnehmen wollte, bis nach Amerika. Ob er wirklich zurückgekommen ist, das weiß sie bis heute nicht. Denn an dem Tag, als sie ihr Köfferchen packen und zum Hafen gehen wollte, wurde sie ganz plötzlich heimgerufen auf den Ritten. Die Mutter war gestorben und so wurde sie auf dem Hof gebraucht. Ja, und dann hat sie nie mehr einen angeschaut seither. Kinder hat sie auch keine, und deswegen wohnt sie jetzt im Pflegeheim. Auch weil sie nimmer alle beieinander hat, seit vielen Jahren schon.“

Die Mena steht vornübergebeugt am Steg und wimmert noch immer in den See hinein. Marie fürchtet sich ein bisschen, hoffentlich fällt die arme Frau nicht ins kalte Wasser. „Was ist denn mit ihr passiert?“
„Deine Uroma, also meine Mutter, hat mir erzählt, dass sie und die Mena und ein paar andere Frauen aus dem Dorf – davon durfte dein Uropa nie etwas erfahren – Mitglieder im Verein für anonyme Schlernhexen waren. Jedes Jahr am 30. April, am Abend der Walpurgisnacht, trafen sie sich, um in einem riesigen marmornen Mörser geweihte Kräuter zu zerstampfen, die sie sich dann auf die Haut auftrugen. Das mussten sie tun, damit sie überhaupt flugfähig wurden und mit ihren neuen Stallbesen eine flotte Runde zum Schlern und wieder zurück drehen konnten. Du wirst es nicht glauben, aber die alten Hexen waren tatsächlich davon überzeugt, dass sie fliegen konnten! In Wirklichkeit verfielen sie in einen schweren Rauschzustand. Aus so einem Rausch ist die Mena nie mehr aufgewacht, weil sie sich in dieser einen Nacht angeblich zu viel von der Salbe raufgeschmiert hat.
Mein Vater hingegen hat immer behauptet, dass die Mena die Klobensteiner Burschen dabei erwischt hat, wie sie unseren Maibaum stehlen wollten – der wird ja auch immer in der Nacht auf den 1. Mai aufgestellt – und dass der Stamm dabei so blöd gefallen ist, dass er die Mena am Kopf erwischt hat. Seither ist sie jedenfalls nicht mehr bei Sinnen und glaubt, sie ist in Genua. Heute hat der Pfleger wohl seinen freien Tag, der schaut nämlich schon immer brav drauf, dass die Alte nicht in den See fällt.“

Plötzlich steuert wie aus dem Nichts ein Boot auf den Steg zu. Der gute Christian kommt dahergerudert, im Matrosenanzug. Er erhebt sich, hält der alten Mena mit einer galanten Verbeugung seine Hand hin und sagt: „Darf ich bitten, gnädigste aller Schönen?“ Mit dem wunderschönsten aller zahnlosen Lächeln steigt die alte Mena zu ihm ins Boot. „Endlich!“, ruft die alte Mena, „endlich!“ Der junge fesche Matrose hilft ihr auf den Liegestuhl, den er für sie ins Boot gestellt und mit einer purpurnen Samtdecke überzogen hat, und sie lehnt sich zurück, mit Freudentränen in den Augen. Das Boot gleitet sanft und lautlos auf den See hinaus. Christian rudert und rudert und singt von Amerika. Und das Boot zieht glitzernde Kreise über den See, bis der Abend hereinbricht und die alte Mena in einen tiefen, traumlosen Schlaf fällt, aus dem sie, die Glückselige, endlich nie mehr aufwachen muss.