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Unsere Seag’schicht’n

Märchen und Momente, Mystik und Magie

Geschichte oder Geschichten? Traum oder Wirklichkeit? Kaum merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Es raunt der Kuckuck, es flüstert die Zirbe, es gurgelt der kleine Bach. Und alle erzählen Erlebtes und Fantastisches. Rund um den Wolfsgrubner See.

Die Winterschwalbe

Erich schüttelte sich den Morgentau aus dem Gefieder und blinzelte verschlafen in den Rest Schleierwölkchen, die sich in Anbetracht der aufgehenden Sonne fürs Auflösen entschieden hatten. Wieder versprach's ein wunderbar sonniger Tag zu werden. Erichs Freude darüber hielt sich in Grenzen. Wegen des guten Wetters war er schließlich nicht im Lande geblieben. Da hätte er gleich...
...wie jedes Jahr - mit seinem Schwarm gen Süden fliegen können. Ins Land der Bananen und Ananas. Ein bisschen schwermütig dachte er an sein komfortables Nestchen unterm Dach des strahleweißen Ferienhäuschens im Club Med. Die Einsamkeit nagte an ihm. Dieses Jahr hatte er sich fürs Dableiben entschieden, weil er endlich mal mit eigenen Augen sehen wollte, womit sein Freund, der Specht, jeden Frühling prahlte. „Ich habe ihn erlebt, den Winter. Er bedeckt die Nadelbäume mit einer dicken, weißen Funkeldecke. Und das Wasser des Sees wird plötzlich steinhart! Man kann darauf herumhüpfen ohne nasse Krallen zu bekommen. Und wie das funkelt, wenn die Sonne aufs Eis scheint! Ja – Eis – so nennt man das. Kinder mit roten Nasen tanzen darauf! Der Winter ist wunderbar. Zum Wegfliegen eigentlich viel zu schade.“

So viele Tage hatte Erich hier nun alleine verharrt. Wartend, hoffend, beobachtend. Das facettenreiche Grün der Wälder war einem monotonen Braun gewichen und der nahe Badestrand wurde schon lange von niemandem mehr besucht. Aber von Schneeglitzern und Eisfunkeln nicht die Spur. Erich hatte tagsüber den Kuckuck als einzigen Gesprächspartner – und der konnte manchmal richtig monoton sein. Der Specht war tagein, tagaus mit Klopfen beschäftigt. Und mit den Eichhörnchen verhielt sich's auch nicht besser. Die taten regelrecht so, als stünde eine Hungersnot bevor, so viele Naschereien verscharrten sie unter Blättern und Wurzelstöcken. Nun ja - Erich hatte es da auch wesentlich bequemer! Flugs flog er wenige Meter über den See, landete sanft auf dem jungen Kirschbäumchen, labte sich an den gelben, mit erlesenen Körnern gefüllten Kugeln, die die Kinder des Hotels in die inzwischen blattlose Baumkrone gehängt hatten, um dann beim Rückflug den runden Schwalbenbauch übers Wasser gleiten zu lassen. Von wegen Nahrungsknappheit im Winter. All die Warnungen von Schwalben-Onkeln, -Eltern, -Geschwistern und -Nachbarn verloren ihre Bedeutung. Wenn die wüssten!

Unter seinem Baum stand plötzlich wieder das kleine Mädchen, das die Eltern immer mit „Marie“ zu sich riefen, wenn es beim Spaziergang wieder mal zu weit zurück blieb. Und wie jeden Tag prüfte es die Wasseroberfläche des Sees, indem es Steinchen hüpfen ließ. Noch immer kein Anzeichen gefrorener Stellen. Es war viel zu warm für diese Jahreszeit, sagten die Erwachsenen. „Kein Schnee an Weihnachten. Und kein Eislaufen in den Schulferien.“ Marie seufzte traurig. Und Erich seufzte mit.

In dieser Nacht fröstelte es Erich plötzlich so sehr, dass er davon wach wurde. Sein Schnabel schlug heftig aufeinander. Sein Gefieder schützte ihn nicht mehr ausreichend vor der Kälte und er verstand nicht, woran das liegen konnte. Er prüfte seine Federn – da war alles wie immer! Und doch – da half alles Plustern nichts. Frierend flog er zur Behausung des Spechts, den er aus dem Schlaf riss, um ihm sein Leid zu klagen. Erleichtert, dank der Aufforderung, das Nest mit ihm zu teilen, schmiegte er sich an den warmen Körper seines Freundes. Dann fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Erich fuhr hoch. Wie lange hatte er geschlafen? Der Specht war fort und er war alleine in der Baumhöhle zurückgeblieben. Fahles Licht drang durch das Loch im Stamm zu ihm herein. In der schummerigen Behausung hatte ihn die Sonne nicht zu wecken vermocht. Oder schien die etwa gar nicht? Müde zwängte sich Erich aus dem warmen Unterschlupf. Aber - was war das?! 1.000 kleine Funkelsternchen überzogen Baumstämme und Büsche! Das Gras war von Diamanten übersät und es blinkte und blitzte sogar aus dem allerdichtesten Unterholz hervor. War das Schnee?! „Das ist Reif, Erich. Komm mit mir!“ Der Specht kreiste über ihm. Mit wenigen Flügelschlägen gelangten die beiden ans Ufer. Und Erich traute seinen Augen kaum. Etwas Gläsernes, zerbrechlich Glänzendes hatte sich stellenweise übers Wasser gelegt. Von Ästen und Schilf, das ins Seewasser ragte, hingen hauchdünne Eisstäbchen hinab, die das Licht dieses kalten Vormittags in bunte Farben brach. Es war schön, viel schöner als der Specht es jemals hätte in Worte fassen können. Und es war jeden Moment der Einsamkeit und das nächtliche Frösteln wert, fand Erich. Von nun an verbrachte Schwalbe Erich die Tage mit Staunen, mit Prüfen, mit Entdecken, mit Warten auf das vollständige Gefrieren des Wolfsgrubner Sees. Der Winter zauberte jeden Tag neue Wunder in die Natur. Von wegen der Winter sei nicht erlebenswert! Wenn seine Schwalben-Onkel, -Tanten und -Geschwister wüssten! Wenn. Ja, wenn. Denn das würden sie nie. Erich hatte beschlossen, all die Geheimnisse des Winters ganz für sich zu behalten. Nicht auszumalen, wenn plötzlich alle Schwalben hier blieben! Dann würde das Futter in den Körnerkugeln nicht mehr reichen und im Bau des Spechts würde es schrecklich eng werden. Nein. Der Winter und all seine Wunder sollten Matzes Geheimnis bleiben. „Erich, die Winterschwalbe.“ Ja, er war einzigartig. Einzigartig wie die Natur im Winter.